Der Hallstätter Wassermann und das schöne Hirtenmädchen

Vom felsigen Westufer des Hallstättersees mit seinen kleinen steil gelegenen Schafswiesen erzählt man sich folgende Geschichte.

Einst, als es noch keinen anderen Weg nach Hallstatt gab als über das Wasser, lebte dort – zurückgezogen in einer kleinen Holzhütte – eine junge Viehhüterin. Da sie aus Kummer seit dem Tod ihrer Eltern die Sprache verloren hatte, wurde sie von den anderen Dorfbewohnern gemieden – obwohl sie fleißig und auch wunderschön war.

Doch das stumme einsame Mädchen blieb nicht von allen ungeachtet. Nahe der Schafswiese in einer felsigen Bucht taucht gerne der Hallstätter Wassermann auf, denn er liebt das flirrend funkelnde Lichtspiel der Sonnenstrahlen an den steilen Felswänden des Seeufers, das an dieser Stelle tief hinabfällt – mitten in das dunkle Reich der wundersamen Wasserwesen.

Die wallenden Haare der schönen jungen Hirtin glitzerten golden im Sonnenlicht. Und es dauerte nicht lange, da verliebte sich der Wassermann in das reizende Mädchen. Nun überlegte er, wie er das Herz der jungen Frau gewinnen und sie in seinen imposanten Unterwasserpalast einladen könnte.

Das stumme Mädchen lauschte gerne dem Gezwitscher der Vögel am Ufer – ganz besonders liebte es die Gesänge der Amsel, Lerche und der kleinen Mönchsgrasmücke. Da dachte sich der Wassermann: „Wenn ich so schön singen könnte wie die Vögel – dann würde die hübsche Hirtin auf mich aufmerksam werden und sich vielleicht sogar in mich verlieben. Ich muss die Vögel bitten, mir das Singen beizubringen!“

Dem Wassermann macht es übrigens gar nichts aus, wenn jemand stumm ist, denn in seiner Unterwasserwelt wird ohnehin nicht viel geredet und seine treuen Gefährten, die Fische, sind ja bekanntlich ebenfalls stumm.

Voller Eifer bat er die Vögel um Gesangsunterricht, doch die hatten Angst vor dem mächtigen schuppigen Wasserwesen und flogen davon. Nur der kleinste Vogel – die mutige Mönchsgrasmücke – versuchte, dem Wassermann eine ihrer schönen Zwitscher-Melodien zu lehren.

Das Ergebnis war allerdings enttäuschend. Mehr als ein tiefes brummiges Geblubber brachte der Wassermann nicht zustande.

Traurig überlegte er, wen er noch um Rat bitten könnte. Viele Freunde hat er ja nicht, die für eine Hilfe in Frage kommen. Doch einer fiel ihm ein: der Biber. Auch er lebt wie der Wassermann sowohl an Land als auch im Wasser: „Der Biber ist wie ich in verschiedenen Welten zuhause. Der weiß sicher einen Rat.“

Der befreundete Nager wusste anfangs auch nicht weiter. Hilfsbereit wie er ist, bat er deshalb seinen Freund, das Murmeltier, um eine Idee. Immerhin kann dieses nicht nur murmeln, sondern auch pfeifen – wenn auch mehr laut als schön.

Und siehe da! Das Murmeltier wusste von einem wundersamen Stück Holz, das innen hohl ist und eine Reihe Löcher aufweist. Ein Hirte spielte angeblich einst darauf, indem er hineinblies und die Löcher mit den Fingern abwechselnd zuhielt. Angeblich waren die Klänge noch schöner als die der Vögel – oder zumindest gleich schön.

Die Elster – die ja bekanntlich selbst nicht besonders gut singen kann – gefiel das Spiel so gut, dass sie beschloss, den Wunderstab mit in ihr Nest zu nehmen. Sie war dann aber recht enttäuscht, dass das Holz nicht klang, so sehr sie sich auch mit ihrem Schnabel und ihren Flügeln bemühte.

Schließlich gab sie auf – doch das hölzerne Zwitscher-Instrument müsste noch bei ihr im Nest liegen, meinte das Murmeltier. Denn wenn Elstern etwas erbeuten, behalten sie es ein Leben lang. Da sind sie wie die Hamster.

Sogleich pfiff das Murmeltier nach der Elster, die prompt heranflog, und fragte sie nach dem pfiffigen Stück Holz. „Was bekomme ich von euch dafür?“ krächzte die Elster, die immer eine Gegenleistung will. „Wenn der Wassermann lernt, wie der Hirte zu spielen, hörst du jeden Tag ein schönes Konzert am
Ufer“, antwortete das Murmeltier. Und der Biber forderte frech: „Bring uns das Holz, du kriegst ja eh nix damit zustande!“

Die stolze Elster war zwar nicht begeistert, doch schlau, wie sie ist, sah sie ein, dass der löchrige Stecken nur wertvollen Platz in ihrem engen Nest brauchte. Sogleich flog sie los und brachte den hölzernen Zauberstab.

Heute ist dieses Instrument bekannt als Seitelpfeife oder Schwegel und wird in der Gegend um den Hallstättersee sehr gerne gepfiffen.

Ganz aufgeregt versuchte der Wassermann sogleich darauf zu spielen, nachdem ihm das Murmeltier erklärte, wie der Hirte damals die Pfeife gehalten hatte – nämlich quer. Trotzdem dauerte es den ganzen Tag, bis endlich der erste Ton aus der Pfeife kam. Daraufhin allerdings machte der Wassermann schnell gute Fortschritte, denn er war talentiert und übte fleißig.
Bald brachte er schöne Töne hervor. Er imitierte die Vogelstimmen und brachte schließlich noch melodienreichere Klänge hervor als die die begabtesten Singvögel allezusammen.

Die Mönchsgrasmücke war sogar ein bisschen neidisch. Die „wassermännisch“ gepfiffenen Melodien entgingen natürlich dem schönen Hirtenmädchen nicht. Längst hatte sie den Wassermann dabei beobachtet, wie er auf dem Felsvorsprung nahe der Schafswiese weilte, sich eine Weise nach der anderen einfallen ließ und diese zauberhaft spielte. Verständlicherweise war sie vorerst etwas irritiert, dass so ein bärtiges, schuppiges Wasserwesen mit Fischflossen statt Beinen auf einer einfachen Holzpfeife so traumhaft spielen kann.

Doch gewöhnte sie sich an sein ruppiges Aussehen und kam jeden Tag neugierig ein Stück näher, blieb aber immer hinter dem dichten Gebüsch am Ufer. Schließlich dachte sie: „Er sieht zwar furchterregend aus, aber wer so schön pfeift, kann nicht böse sein.“

Und so kam der Tag, da trat sie mutig aus ihrem Versteck hervor und nickte der schaurigen Kreatur freundlich zu. Der Wassermann war entzückt und aufgeregt zugleich. Er gestand ihr sogleich seine Liebe, indem er ihr einen schmachtend herzhaften Blick zuwarf, den nur Wassermänner haben können.

Auch das Hirtenmädchen hatte aufgrund der zauberhaften Musik Gefühle für das nixenartige Geschöpf entwickelt, zumindest war er ihr sehr sympathisch, wird überliefert.

Aber natürlich könnte die junge schöne Hirtin niemals für immer dem Wassermann in sein sagenhaftes Unterwasserreich folgen. Sonst wäre das hier ja ein Märchen und keine Geschichte!

Außerdem gab es zu der Zeit auch noch keine Tauchausrüstung mit Sauerstoffflaschen. Und: Wer sollte schließlich die Schafe hüten?

Weil aber ein Wassermann für eine gewisse Zeit auch am Land verweilen kann, besuchte er die anmutige Hirtin von nun an täglich für einige Stunden und spielte ihr die schönsten Weisen auf der Seitelpfeife vor.

Eine seiner Melodien ist sogar überliefert: